„Wir haben gefeiert wie die Blöden“

Seit über 25 Jahren gibt es Deichkind, und die Band macht immer noch Krawall und Remmidemmi. Für dbmobil.de hat sich das für aufwendige Kostüme bekannte Künstler-Kollektiv exklusiv im ICE-Werk in Hamburg Eidelstedt fotografieren lassen. Im Interview sprechen drei der Mitglieder unmaskiert über Bühnenexzesse, das Älterwerden und über den langen Weg zu mehr Nachhaltigkeit in der Musikbranche.

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Benjakon

Die Verwandlung dauert 20 Minuten, und aus vier Männern in Hoodies, Jeans und Boots ist Deichkind geworden, das Elektropunk-Kollektiv aus Hamburg, dessen Song „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ fast jede:r hierzulande mitsingen kann. Eine Art voluminöses Kleid aus Daunenjacken, ein roter Arbeitseinteiler und ein zum Umhang umfunktionierter historischer Unterrock – das sind nur einige der Klamotten, die die Deichkinder beim Shooting tragen, außerdem kommen schwarze Lackschuhe, ein gelber Käscher, ein mit Glöckchen und Lametta verziertes Regenschirmskelett und rosafarbene Gummihandschuhe an diesem Wintersamstag im ICE-Werk in Hamburg-Eidelstedt zum Einsatz.

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Deichkind sucht sich für Fotosessions immer ungewöhnliche Orte aus, und hier in der riesigen Werkshalle dürfen die Mitglieder unter und in aufgebockten Hochgeschwindigkeitszügen, die gewartet werden, stehen. Zwischendurch radeln Werksarbeiter mit Warnjacke zu ihrem nächsten Arbeitseinsatz vorbei.   

Die Band gibt es seit über 25 Jahren, 2006 ist sie mit dem Album „Aufstand im Schlaraffenland“ weit über Hamburg hinaus bekannt geworden. Die Besetzung hat sich mehrfach verändert, und die Mitglieder sprechen lieber von einem Künstler-Kollektiv als von einer Band im engeren Sinne. Häufig geht Deichkind Kollaborationen mit prominenten Kollegen wie Fettes Brot, Beatsteaks oder Lars Eidinger ein. Legendär sind die frühen Konzerte, bei denen die Sänger halb nackt, nur mit Müllsäcken und mit surrealen Kopfbedeckungen bekleidet auf der Bühne feierten, mit Schläuchen voller Alkohol („Wodka-Zitze“) das Publikum abfüllten und über die Fans mit einem Schlauchboot ritten, während sie Säcke mit Daunen über die Köpfe der Leute ausschütteten.

Am 17. Februar erscheint „Neues vom Dauerzustand“, das achte Studioalbum von Deichkind, und ab 21. Juni geht’s wieder auf Tour. Ob sie dabei heute noch so wild sind wie früher, erzählen drei der vier Mitglieder im Interview.

Früher war es wirklich eine einzige große Party

Sebastian „Porky“ Dürre

Ihr seid bekannt für eure exzessiven Konzerte. Ist das noch echte Party oder inzwischen inszenierte Enthemmung?

Sebastian „Porky“ Dürre: Früher war es wirklich eine einzige große Party, das war hundertprozentig authentisch. Wir haben nachmittags angefangen Bier zu trinken, drei Shows in einer Nacht gespielt, kurz im Auto gepennt, dann sind wir los zum nächsten Auftritt. Damals war der Funke von Punkrock mit dabei, es war nicht so wichtig, was mit der Band passierte oder wie viele Leute beim Konzert waren. Wir waren jung und haben gefeiert wie die Blöden. Aber so geht es heute nicht mehr. Und das wollen wir so krass auch nicht mehr.

Henning „La Perla“ Besser: Als wir anfingen, haben wir uns Müllsäcke angezogen und durch Kostüme und Maskierungen ganz gezielt mit Freiheit, Exzess und der Überwindung von Scham experimentiert. Ich würde sagen, zu der Zeit waren wir eins zu eins das, was wir auf der Bühne gemacht haben. Das haben wir gelebt und empfunden. Es war aber klar, dass man das nicht ewig so weitermachen konnte, weil es irgendwann auserzählt war. Und da haben wir angefangen, das Ganze zu inszenieren. Früher waren wir die Teilnehmer am Experiment Party, heute sind wir diejenigen, die das Partyleben lange erforscht haben und nun mehr in Richtung kreatives, künstlerisches Arbeiten gegangen sind.

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Unsere Konzerte sind immer noch ein großer Spaß, ein Kindergeburtstag für Erwachsene

Henning „La Perla“ Besser

Seid ihr erwachsen geworden?

Philipp „Kryptik Joe“ Grütering: Ich wollte immer tanzbare Musik machen, und das will ich heute noch. Insofern sind wir weiterhin eine Partyband. Aber inhaltlich hat sich etwas verändert. Beim Schreiben von Partysongs gerate ich inzwischen an die Authentizitätsgrenze. Ich bin keine 25 mehr, ich bin Mitte 40. Ich habe mich entwickelt, bin erwachsener geworden, habe mehr Verantwortung, wie wir alle. Da müssen schon andere Themen mit rein – die, die uns auch als Privatpersonen beschäftigen.

Zum Beispiel?

Philipp: Zum Beispiel Umwelt und Klima im Song „In der Natur“. Es geht darin um unsere romantische Vorstellung von Ausflügen in die Natur – und die harte Realität. Wir alle stellen uns doch gern vor, wie schön zum Beispiel ein Campingausflug sein könnte: draußen sein, eins mit der Umgebung, entspannt. Und dann ist es zu heiß, oder es regnet ins Zelt, und die Insekten nerven.

Sebastian: Oder unser Älterwerden in „Kids in meinem Alter“. Wir spielen mit dem Thema, und da haben wir ja die Fans an unserer Seite, die das Gleiche empfinden, weil sie mit uns älter geworden sind. Die sind in ihrem Leben auch an einem anderen Punkt als vor zehn Jahren. Was die beschäftigt, ist: Wie bleibe ich jung, wie bleibe ich fresh, und wie werde ich wieder heiß für den Markt, nachdem die Ehe nach zehn Jahren vorbei ist. 

Henning: Unsere Konzerte sind immer noch ein großer Spaß, ein Kindergeburtstag für Erwachsene, auf dem man richtig feiern kann. Wir freuen uns, wenn die Leute nach zwei Stunden abschalten verschwitzt und glücklich nach Hause gehen. Aber wir haben uns über die Zeit erarbeitet, dass sich unsere Fans auch für andere Facetten begeistern und uns als Künstler ernst nehmen. Und dass sie sehen, dass hinter dem Projekt Deichkind eine ernstzunehmende künstlerische Position steckt, trotz des Humors, der Zuspitzungen und der satirischen Mittel.

Sebastian: Aber eins ist klar: Die Leute können sich bei unserer Tour auf die normale Eskalation freuen. 

Philipp: Deshalb kommen die Fans ja auch. Es wird eine Mischung sein aus neuen Sachen und Evergreens, die funktionieren und uns immer noch total Spaß machen.

Sebastian: Es ist nicht „Cats“, aber es ist auch kein Free Jazz.

Der „Spiegel“ schrieb 2020, eure Liveauftritte seien „Entgrenzungsspektakel“. Wie viel Raum für Spontaneität habt ihr noch?  

Sebastian: Die Musik ist komplett durchchoreografiert. Aber dazwischen gibt es immer wieder Raum für Improvisation, für Ansagen oder einen Jump. Ich suche mir da meine Freiheiten.

Philipp: Ich bin ein ganz anderer Typ als Porky. Für mich gibt es eigentlich gar keine Spontaneität während der Show …

Sebastian: Ach komm, das stimmt doch nicht!

Philipp: Doch! Und ich bin eigentlich ganz froh darüber, das gibt mir Sicherheit. Man hat ja Lampenfieber, und dann fühl ich mich sehr wohl in unserer Show, weil ich weiß, was kommt. Ich wäre wahrscheinlich viel aufgeregter, wenn ich auf einer Beerdigung vor 50 Mann eine Rede halten müsste, als wenn ich bei einer Deichkind-Show vor 12 000 Leuten auftrete.

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Wenn ich mich mit anderen Bands unterhalte, ist es mir fast ein bisschen peinlich

Philipp „Kryptik Joe“ Grütering

Eure Musik kommt vom Band. Wie läuft ein Konzert ab?

Philipp: Ich finde das manchmal schon seltsam: Ich gehe auf die Bühne, ich drücke am Computer auf „Start“, wir machen zwei Stunden Show, und dann gehe ich von der Bühne und drücke auf „Pause“. Wenn ich mich mit anderen Bands unterhalte, ist es mir fast ein bisschen peinlich, weil die vielleicht denken, was, die drücken einfach nur auf „Play“? Das sind ja gar keine richtigen Musiker. 

Sebastian: Aber die Vocals sind immer alle komplett live!

Philipp: Das stimmt. Aber wir haben insgesamt eben ein ganz anderes Konzept als eine normale Band. Wir haben ja keine Musikinstrumente.  

Henning: Trotzdem sind wir kreativ. Nur findet bei uns diese kreative Arbeit eben zu einem anderen Zeitpunkt statt. 

Uns ist bewusst, dass der Wandel stattfinden muss

Henning „La Perla“ Besser

Umweltschutz und Nachhaltigkeit sind sehr viel präsenter in den Köpfen der Menschen als früher. Auch ihr zeigt ein neues Bewusstsein und seid beispielsweise 2019 bei einer Demo von Fridays for Future aufgetreten. Kam mit dem Erwachsenwerden auch der Wandel von den Party-Hedonisten zu Klimaschützern?

Henning: Wir sind noch mitten in dieser Transformation. Wir können uns nicht auf die Fahne schreiben, dass wir jetzt schon die nachhaltigste Band sind. Trotzdem nehmen wir das Thema sehr ernst, auch privat. Und es hat im letzten halben Jahr noch mal unheimlich an Fahrt aufgenommen. Aber es ist auch eine schwierige Zeit.

Inwiefern?

Henning: Wir haben zweieinhalb Jahre ohne Einkünfte hinter uns. Da wieder rauszukommen braucht Zeit, genauso wie es Zeit braucht, Nachhaltigkeitskonzepte zu erarbeiten und umzusetzen. Das steht sich im Moment ein bisschen gegenseitig im Wege, und es fällt uns schwer, das Thema Nachhaltigkeit so voranzubringen, wie wir es gerne würden. Trotzdem ist uns bewusst, dass der Wandel stattfinden muss, auch in unserer Branche.

Wo seid ihr nachhaltiger geworden, wo macht ihr noch Kompromisse?

Henning: Wir fahren zwar noch mit Diesel-Nightlinern von Konzert zu Konzert, weil es noch keine Trucks gibt, die mit Strom betrieben werden, und wir diese Lastwagen benötigen, um all unser Equipment zu transportieren. Aber wir haben eine Software entwickelt, die das Tour-Routing so optimiert, dass wir die Fahrstrecken reduzieren. Dadurch verbrauchen wir weniger Benzin. Unsere Lichtshow haben wir bis vor wenigen Jahren mit Halogenlampen durchgeführt, inzwischen haben wir auf LED umgestellt, wodurch sich der Stromverbrauch mindestens halbiert, vielleicht sogar auf ein Viertel reduziert. Wir überlegen viel mehr, welche Reisen wirklich nötig sind, und wenn sie stattfinden, fahren wir möglichst mit der Bahn. Das sind am Ende immer kleine Teilausschnitte, aber wir müssen ja irgendwo beginnen und auch wirtschaftlich abwägen. 

Philipp: Wir können ja kein Minus machen. Es kann für Deichkind nicht die Lösung sein, nur noch in Theatern aufzutreten und nicht mehr durch die Gegend zu fahren. Aber wir versuchen eben auch anders unseren Beitrag zu leisten, indem wir etwa Fridays for Future unterstützen, indem wir als Band Haltung zeigen. Wir sind zwar keine Klimaaktivisten, aber wir haben die Möglichkeit, mit Leuten in Kontakt zu treten und darüber zum Nachdenken anzuregen. „In der Natur“ zum Beispiel ist kein Klimaaktivistensong, aber man kann über ihn assoziativ zum Thema Klima kommen. 

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Die Kultur kann also Anstöße geben?

Sebastian: Ja, die Kultur ist wichtig für die Leute, um wieder motiviert zu werden, um aktiv zu werden, um nicht aufzugeben. 

Henning: Und wir sind Teil einer Branche, die sich bemüht, sich neue Standards zu geben und sich gegenseitig zu motivieren. 

Sebastian: Die Band Seeed verzichtet zum Beispiel auf ihrer Tour auf Plastikflaschen. Da hat jeder in der Crew seine eigene Metallflasche mit Namen, und an der Bühne und backstage gibt es Stationen, an denen Leitungswasser gefiltert wird. Damit sparen die Tausende von Plastikflaschen. Das wollen wir auf der nächsten Tour auch machen. Und so haben die uns inspiriert, während andere unseren Tourenrechner übernommen haben. Wir können uns als Branche vernetzen und mit Innovationen gegenseitig helfen. Aber jetzt zu sagen, wir machen genug – nein. Wir bemühen uns, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Da sind wir auch auf den gesamtgesellschaftlichen Wandel angewiesen.

Deichkind auf Tour

Am 22. Juni 2023 starten Deichkind ihre „Neues vom Dauerzustand“-Tour durch acht deutsche Städte. Unter anderem dabei: München, Dortmund, Leipzig und Berlin. Außerdem wird es je ein Konzert in Österreich und der Schweiz geben. Alle Infos unter deichkind.de

DB mobil

Unmaskiert:

Zum Interview traf dbmobil.de-Redakteurin Katja Heer (rechts) die drei Bandmitglieder Philipp "Kryptik Joe" Grütering (Mitte), Sebastian „Porky“ Dürre (links) und Henning „La Perla“ Besser (nicht im Bild) im Keller der Eventlocation Schroedingers in Hamburg. Heer erzählte auch von ihrem ersten Deichkind-Erlebnis 2005 im Hamburger Schauspielhaus. Man munkelte von einem anschließenden Hausverbot für die Band – zu viel sei kaputt gegangen. Davon ist der Presseabteilung des Schauspielhauses heute allerdings nichts bekannt.  

Auf die Ohren

Sie wollen noch mehr über Deichkind wissen? Dann hören Sie doch mal in den aktuellen DB MOBIL-Podcast "Unterwegs mit..." rein, bei dem Philipp  "Kryptik Joe" Grütering zu Gast war 

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